Die TGM in den Kriegsjahren
Das Fenster ist einen Spalt geöffnet. Das unaufhaltsame Brummen einer nicht endenden Wagenkolonne macht mir Angst. Das Dreieck der Alpspitze ist deutlich im kalten Mondlicht gegen den nachtschwarzen Himmel zu erkennen.
Es ist Mai 1945. Der grausame Krieg ist zu Ende, die Amerikaner ziehen durch Garmisch Richtung München.
Ich habe mich abgesetzt, schwer an Schulter und Kopf verwundet, habe bei einer Frau Werner Unterschlupf gefunden. Hoffentlich sucht mich hier niemand – meine einzige Sorge. Wenigstens hatte ich das Glück – verwundet in Ungarn – hier im amerikanisch besetzten Teil gelandet zu sein.
Vor 5 Jahren hätte ich mir das alles nicht träumen lassen. Meine ältere Schwester Elli nahm mich 1940, im zarten Alter von 16 Jahren mit zu einem Kanuslalom auf dem Floßkanal. Wildwasserfahrer nannte man die kühnen Kanuten in den schmalen und zerbrechlichen Faltbooten, die förmlich durch die Torstangen ritten. Ich hatte sofort angebissen, wollte auch einen Kajak beherrschen. Elli zeigte mir das Bootshaus am Isarkanal. Sie war bereits seit einem Jahr Mitglied.
Mein Wunsch, sofort in ein Boot zu steigen, wurde erst am folgenden Wochenende erfüllt. Mit der Bahn fuhren wir nach Starnberg und marschierten zur Bootswerft Rambeck, wo die TGM einen – damals weit verbreiteten – großen Canadier, ein Mannschaftsboot besaß. Er hieß ”Zehner”, obwohl er nur von 8 Paddlern und einem Steuermann mit Stechpaddeln bewegt wurde. Müde, aber glücklich kehrten wir am Abend nach München zurück.
Im Bootshaus, einem Holzgebäude, war einmal die Woche Training, das von Rudi Wotke geleitet wurde. Am Wochenende waren wir immer in Starnberg, wo es eine einfache Schlafgelegenheit gab.
Sonst war es still im Bootshaus, denn die wehrfähigen Männer waren alle an der Front. Es gab keinen Clubabend, keine Feste. Das Bootshaus war eigentlich nur Umkleide.
Der Kanuverband stand unter der Hierarchie der damals größten Jugendorganisation, der Hitlerjugend (HJ). Wir in Oberbayern waren das Gebiet Hochland. Alles lief über die HJ, also über die Partei, die NSDAP. Der Forderung, Uniform zu tragen, haben wir uns weitgehend entzogen, denn in Bayern nahm man das etwas lockerer. Wichtig war, einen Stempel im ”Dienstleistungsnachweis”, dem Rennpaß zu haben. Denn nur dann bekam man auch kostenlose Fahrkarten für die Bahn. Autos gab es fast keine, außer man war irgend ein großes Tier in der Partei.
1941 waren wir ein eingespieltes Team und Wotke meinte, er könne mit uns auf die deutsche Jugendmeisterschaft nach Berlin-Grünau fahren.
Die Bahnfahrt war lang, die Züge übervoll. Trotzdem war es aber überaus lustig. Wir versperrten die Abteiltüren mit unseren Gürteln und schliefen auf den Bänken und im Gepäcknetz. Dann kamen wir an die Regattastrecke. Die HJ hatte Privatquartiere organisiert, wo wir als kleine Exoten aus dem fernen Bayern sehr ”bemuttert” wurden. Das Boot, der Mannschaftscanadier wurde zur Verfügung gestellt, natürlich nicht der beste.
Das gesamte Ambiente, die Rennatmosphäre war absolut neutral und ohne sichtbaren Einfluß der Partei. Die Jungen und Mädel aus dem ganzen Reich trafen sich nur zu sportlichem Wettkampf. Am Abend allerdings war Ausgangssperre, was einige der älteren unter uns aber nicht störte. Sie marschierten im TGM Pullover in´s damals berühmte ”Haus Vaterland”, einem Varieté und Nachtclub. Man kann sich die Geschichten vorstellen, die sie uns am nächsten Tag erzählt haben. Wir haben sie sehr beneidet.
Bis dahin hatten wir in einem grossen Feld von Booten den Vor- und Zwischenlauf überstanden und mußten eben an diesem Tag zum Endlauf antreten. Wie sehr wir uns auch anstrengten, es reichte nur zum 8. und damit letzten Platz. Unsere Nachtbummler ließen im Ziel erschöpft die Paddel schwimmen. Trotzdem für uns alle ein tolles Er-gebnis.
Der klubeigene Bootspark war eher dürftig. Zwei K1 und ein K2 aus Aluminium in München, sowie ein K4, zwei K2 und drei K1 neben dem ”Zehner” in Starnberg. Einziges Holzboot war der Olympiaeiner von Ernst Krebs, der wie eine Reliquie behandelt wurde.
Wander- also Faltboote, waren alle Privateigentum. Beppo Säckler, der eine Sattlerei am Harras betrieb, flickte kaputte Boote und organisierte manchmal eine Isarfahrt. Er war aus Altersgründen nicht mehr zur Waffe gerufen worden.
1942 startete ich im Einer wieder bei der Deutschen Jugendmeisterschaft in Berlin. Ein Feld von fast 50 Jungen bewarb sich um den Titel. Ich gewann Vor- und Zwischenlauf und wurde 4. im Endlauf. Ich war sehr stolz, in Deutschland ”Spitze” zu sein.
Zurück in München lag die Einberufung zum Arbeitsdienst auf dem Tisch. Der Spaß war zu Ende, der Krieg begann auch für mich mit all seinen Konsequenzen.
Der Sportbetrieb kam 1944 ganz selbst Kinder zu den Waffen gerufen. Ich war in Südfrankreich und dann in Ungarn, wo mich die Kugeln trafen.
Gottseidank konnte ich mich in Garmisch bis zum Ende verstecken. 1948 – gerade genesen – kam ich wieder in´s Bootshaus. Eine Luftmine hatte es in Trümmer gelegt.
Albert Stirner